Bewegender Debütroman

Hoffnung auf Versöhnung

29. August 2021

Ein abgeschiedenes Holzhaus an einem schwedischen See. Aufwühlende Erinnerungen und unbeantwortete Fragen: In Alex Schulmans Roman „Die Überlebenden“ begeben sich drei Brüder nach dem Tod ihrer Mutter auf die Suche nach den Geheimnissen ihrer Kindheit.

Als die drei Brüder Benjamin, Nils und Pierre nach zwei Jahrzehnten an den Ort ihrer Kindheit – ein einsames Holzhaus am See – zurückkehren, um die Asche ihrer Mutter zu verstreuen, nehmen sie die Leser mit auf eine Zeit­reise. Wir begleiten sie in ihre zurückliegende Jugend, die geprägt ist von unerfüllter Sehnsucht nach Nähe und Liebe, nach Anerkennung und Verlässlichkeit; von den gut gemeinten, doch zu­gleich unbeholfenen Versuchen der Eltern, Gefühle zu zeigen. Aber auch von glücklichen Momenten: einer unvermutet zärtlichen Umarmung der Mutter, dem Wohlgefühl, gemeinsam mit dem Vater schweigen zu können, von Freiheit und Abenteuer. 

Die Juniwochen ihrer Erinnerung, wenn der Nachthimmel niemals schwarz wird, sind eingerahmt von der rauen Natur Schwedens: dem unheimlich dunklen Wald, dem stillen See, dessen Wasser auch im Sommer kalt bleibt, dem schmalen, zugewucherten Kiesweg, der einzigen Verbindung zur Außenwelt. 

Über diese Sackgasse fahren die drei erwachsenen Brüder nun Jahre später zum Grundstück hinunter. An den Ort, dem sie ihr Leben lang versucht hatten zu entkommen. Warum nur? Gemeinsam versuchen sie zu verstehen, was damals geschehen ist, offengebliebenen Fragen auf den Grund zu gehen, zu denen jeder eine eigene, ­individuelle Erinnerung hat. „Die Zeit ist ein Kiesweg, hält man sich rechts, kann man auf der linken Seite sich selbst vorbeiziehen sehen“, philosophiert der hochsensible Benjamin, während das Auto über die einspurige Hauszufahrt rumpelt. Mit Benjamins Wahrnehmung verfolgen wir zwei Zeitstränge, die sich im Lauf des Romans aufeinander zubewegen. Anders als die unterschiedlichen Brüder, denen es nicht gelingt, ihre vor Jahren verloren gegangene Vertrautheit wiederherzustellen. 

Alex Schulmans erster Roman rührt an, überrascht und stimmt nachdenklich. Das Leben der kleinen Mittelklassefamilie ist bestimmt von Emotionen, die sich nicht entfalten können, von aufgestauten Aggressionen, die plötzlich ausbrechen, und von einer unterschwelligen Trauer, für die es keine Worte gibt. Seine Sprache lässt im Kopf Bilder wie Gemälde entstehen und ermöglicht tiefe Einblicke in die Seele Benjamins, der Hauptfigur. Mit raffinierten erzählerischen Kniffen stellt Alex Schulman Zeitabläufe auf den Kopf und lässt Raum für Fantasie und Interpretationen. Ein stilles und zugleich aufwühlendes Buch – man mag es nicht aus der Hand legen. Ein ganz großes Leseerlebnis.

Susanne Dietrich

Über den Autor

Alex Schulman, geboren 1976 im südschwedischen Hemmesdynge, hat mit „Die Überlebenden“ seinen ersten Roman geschrieben. Zuvor veröffentlichte der Autor und Journalist mehrere autobiogra­fische Bücher. Sein Memoir „Glöm mig“ (Vergiss mich) wurde in Schweden 2017 zum Buch des Jahres gekürt. 

Alex Schulman
Die Überlebenden

Übersetzt von Hanna Granz.
dtv, 304 S., 22,– €,
ISBN 978-3-423-28293-2