BELLETRISTIK

Lebenstraum Grundbucheintrag

15. September 2023

Arbeiten, sparen und am Ende frisst die Inflation alles auf. 
Mit typischem Wortwitz, ­lakonischem Humor und doch voll Liebe und Achtung, erzählt Wolf Haas im neuen Roman das Leben seiner Mutter.

Ihre Nachbarin hat sie ein Mal schwer beleidigt, den Briefträger auch ein Mal, die Wirtin zwei Mal und im Laufe ihres 95-jährigen Lebens wohl jeden im Dorf mindestens ein Mal. Die nüchterne Aufzählung der Wirtin aus ­ihrem Dorf nach dem Tod seiner Mutter bestätigt, was dem Ich-Erzähler Wolf Haas nicht verborgen blieb: Marianne Haas war ein „schwieriger Mensch“. 1923 geboren, im Jahr der Hyperinflation, wurde genau das ihr Lebenstrauma: „Dann ist die Inflation gekommen und das Geld war hin.“ Schon im Mutterleib hat Wolf Haas dieses Lamento gehört, er ist mit dem „Urgroll“ auf den monetären Wertverfall aufgewachsen – und mit so manch anderen Dauer-Schimpftiraden und Eigenwilligkeiten seiner Mutter. „Ich hörte immer brav zu, ich sah schon mit drei Jahren alt aus. Die drei Phasen des Bausparvertrags (Sparphase, Zuteilungsphase, Darlehensphase) hielt ich für einen Kinderreim.“
Jetzt sitzt er an ihrem Sterbebett im Altenheim und ist fassungslos: Sie bittet ihn, ihre Eltern – „wo die jetzt sind, ich weiß nicht, wie es da heißt“ – mit dem Handy anzurufen und auszurichten, dass es ihr gut gehe. „Ich war angefressen. Mein ganzes Leben lang hat mir meine Mutter weisgemacht, dass es ihr schlecht ging. Drei Tage vor dem Tod kam sie mit der Neuigkeit daher, dass es ihr gut ging. Es musste ein Irrtum vorliegen.“ 
Mit seinem lakonischen Witz, dem typischen Blick auf bizarre Details samt überraschenden Rückschlüssen „strickt“ Wolf Haas im neuen Roman „Eigentum“ das Leben seiner Mutter nach. So wie sie als Kind schon Löcher in Strümpfen im Originalmuster „zustricken“ konnte, versucht nun der Sohn aus losen Erinnerungsbildern und situationskomischen Wortwechseln am Sterbebett „das Muster herauszufinden und die Löcher zu stopfen“. 
Unverblümt lässt Wolf Haas seine Mutter in ihrem österreichischen Dialekt erzählen, mahnen, seufzen und schimpfen, wie sie ihm und allen anderen in dem kleinen Dorf bei Salzburg zeitlebens entgegengetreten ist: mit ihren speziellen Ausdrücken, den kurzen entschiedenen Sätzen, der umgangssprachlich falschen Grammatik und ihrem sehr eigenen Blick auf die Welt. So erinnert sie ein wenig an den Erzähler in Wolf Haas’ berühmten Brenner-Krimis, den der Bestsellerautor ebenso menschelnd, mit falscher Grammatik und einer sehr speziellen Sicht auf die Welt „plappern“ lässt, was die Fangemeinde begeistert. 
Im rasanten Wechsel – inklusive der Schauplätze – von grimmig-humorigen Gesprächen in den wachen Momenten der Mutter, wortwitzigen Gedankenassoziationen des Ich-Erzählers und den Erinnerungen der alten Frau entrollt Wolf Haas ein 95 Jahre währendes Leben, das sein eigenes einschließt. Armut, Arbeit von klein auf, Reichsarbeitsdienst während des Zweiten Weltkriegs, Job bei der „Briefzensur“ im Dienste der amerikanischen Besatzer, später Hotelfachschule, Beruf, Familie, dazu der ewige, vergebliche Traum vom Eigenheim und ihr genereller Groll auf „die Leut’“. Auch dieser Groll wird zum köstlichen Kuriosum: „Sie konnte blind tippen mit dem Zehnfingersystem, aber sie konnte nicht mit den Leuten, sie konnte einem Kind die Inflation erklären, aber sie konnte nicht mit den Leuten, sie konnte Englisch, sie konnte Französisch, sie konnte Generationen von Wirtskindern durch die Schule tragen, aber sie konnte nicht mit den Leuten …“

Die Liebe und tiefe Wertschätzung des Sohnes für die Mutter wird Seite für Seite greifbarer in diesem sehr persönlichen, sehr berührenden und doch ungemein witzigen Buch.

Zwischen Anekdoten, sarkastischen Kommentaren und frechen Sprach­spielereien des Sohnes, die Wolf Haas’ ureigenen Sprachstil und alle seine Romane auszeichnen, breitet sich unmerklich eine Woge der Sympathie für die „spinnerte Alte“ aus. Die Liebe und tiefe Wertschätzung des Sohnes für ­seine Mutter wird Seite für Seite greifbarer in diesem sehr persönlichen, sehr berührenden und doch ungemein witzigen Buch. Nicht von ungefähr erhielt Haas 2016 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor. Seine „Realsatire“ beschönigt nichts, zeichnet nichts weich, und doch bekommen die Verletzungen und Beschwernisse des Lebens, die alle Beteiligten erleiden mussten, etwas Versöhnliches. Die Trauer über den nahen Tod der Mutter scheint leichter zu werden, ohne je ins Lächerliche zu entgleiten. 
Dass der biografische Roman den ­Titel „Eigentum“ trägt, darf als Pointe des Haas’schen Humors verstanden werden. Das passt auch zur Entscheidung gegen eine Urnenbestattung. Das Familiengrab auf dem Friedhof ist schließlich der einzige „Privatgrund“ der Mutter geblieben. Für alle Ewigkeit sollte sie die zwei Quadratmeter in bester Lage und mit Blick auf ihre alte Mietwohnung gegenüber in ganzer Länge ­beziehen. • 

Wolf Haas
Eigentum

Hanser, 160 S., 22,– €,
ISBN 978-3-446-27883-2

Über den Autor

Wolf Haas, 1960 in Maria Alm am Steinernen Meer (Österreich) geboren, wurde neben seinen Romanen vor allem durch seine neun Brenner-Krimis bekannt. Der vielfach prämierte ­Bestsellerautor lebt in Wien. Zu seinen Auszeichnungen zählen unter anderem der Bremer Literaturpreis und der Wilhelm Raabe-­Literaturpreis.