Westermanns Fundstücke

Zufällige Begegnung

14. Oktober 2021

Buchjournal-Kolumnistin Christine Westermann empfiehlt Lektüre abseits der aktuellen Bestsellerlisten. Lektüre, die auch das ­Wiederlesen lohnt. Heute: „Zehn“ und „6 Uhr 41“.

Andrej Longos „Zehn“ (dtv, 12,99 €): Vor elf Jahren habe ich dieses Buch gelesen. Aber wenn ich jetzt den Titel sehe, bin ich wieder mittendrin. In Neapel, der Heimatstadt des ­Autors. Zehn Geschichten, jede trägt den ­Namen ­eines der zehn Gebote. Bei ­jeder einzelnen bekommt man es mit der Angst zu tun. Keine ist erfunden, alle sind so passiert, zeigen, wie die Mafia den Alltag der kleinen Leute beherrscht, alle Werte ­außer Kraft setzt, aus den zehn Geboten eine Lachnummer macht. Longo schreibt beeindruckend, beinahe poetisch. Aber trotz seiner sanften Sprache offen­baren die zehn Episoden eine unglaubliche Brutalität. Sie erzählen, hat damals ein Journalist geschrieben, mehr über Neapel als jeder Untersuchungsbericht. Ein Satz, so wahr wie die zehn Geschichten.  

Das zweite Fundstück ist „6 Uhr 41“ (Goldmann, 10,– €) von Jean-­Philippe Blondel, ein sehr leises Buch. Dennoch hängt eine intensive Spannung über dem Roman, die ­einen mühelos bis zur letzten Seite trägt. Da allerdings könnte die Geschichte durchaus weitergehen. Oder auch nicht. Je nachdem, wie man es sehen mag. Es passiert mir nicht oft, dass ich keinerlei Sympathien für die Protagonisten hege. Weder Phi­lippe noch Cecile fühlte ich mich nahe, und dennoch hat mich ihre ungewöhnliche Geschichte gefesselt. Die beiden treffen sich zufällig in einem Zug auf dem Weg nach Paris. Erkennen sich sofort, denn vor mehr als 30 Jahren hatten sie eine intensive Affäre. Bis ihnen an einem romantischen Wochenende die Beziehung unschön um die Ohren flog. Jetzt, auf der Zugfahrt, aber merken sie, dass sie ihr noch immer nachhängen. Werden sie neu anfangen oder endgültig Schluss machen? Sie haben noch anderthalb Stunden bis Paris … 

Über unsere Kolumnistin

Christine Westermann ist Autorin und Journalistin. Sie arbeitet seit vielen Jahren für das Fernsehen und den Hörfunk des WDR, war Mitglied beim „Literarischen Quartett“ und moderierte zusammen mit Götz Alsmann die Sendung „Zimmer frei“.