PSYCHOLOGIE

Wie fühlen sich Vampire?

6. September 2023

Empathie lässt sich trainieren. Und wie? – Ganz bequem auf dem Sofa beim Lesen, sagt die Psychologin ­Constanze Schreiner.  

Impfen oder nicht? Über solchen Fragen sind in den vergangenen Jahren Freundschaften zerbrochen. Und auch die vielen Hasskommentare im Netz legen nahe, dass es uns oft schwerfällt, andere Meinungen und Perspektiven zuzulassen. Da ist es doch eine gute Nachricht, dass Lesen uns offenbar dabei hilft, uns in andere Menschen hineinzuversetzen. Die Psychologin Constanze Schreiner erklärt, was dabei genau passiert.

Haben Leser:innen wirklich ein besseres Einfühlungsvermögen?
Tatsächlich gibt es einige Studien, die zeigen, dass wir speziell durch das Lesen von Geschichten besser darin werden, uns in andere hineinzuversetzen. Je mehr Bücher wir lesen, umso größer die Wirkung. Wer sich gut in andere ­hineindenken, sich gut einfühlen kann, ist aber im Schnitt auch lesebegeisterter. Ursache und Wirkung beeinflussen sich also gegenseitig. 

Das heißt, empathischere Menschen lesen mehr und dass sie mehr lesen, macht sie noch empathischer?
Ja, genau. Beim Lesen trainieren wir allerdings nicht nur unsere Empathie, das wäre die rein emotionale Komponente. Wir nehmen auch die Perspektive der Figuren ein, betrachten Situationen aus deren Blickwinkel und lernen so, ihre Bedürfnisse und Ziele besser zu verstehen. 


 

Über die Gesprächspartnerin

Constanze Schreiner ist promovierte Psychologin und Lehrbeauftragte an der Universität Würzburg. In ihrer ­Dissertation hat sie sich mit der Wirkmacht von Geschichten beschäftigt. In ihrem Blog schreibt die Wissenschaftlerin über ­psychologische ­Forschung, die auch für den Alltag relevant ist: absolutpsychologisch.de


 

 

Macht uns Lesen damit zu besseren Menschen?
Schön wär’s. Ganz so einfach ist es nicht. Wer andere besser versteht, kann das natürlich auch für die eigenen Zwecke nutzen. Psycho­pathen etwa können sich oft sehr gut in Menschen hineinversetzen. Es fehlt ihnen aber das Mitgefühl. Sie könnten also ihre durch die Lektüre gewonnenen Fähigkeiten dazu nutzen, andere zu manipulieren.

Aber zu schlechteren Menschen werden wir durch das Lesen von Romanen hoffentlich auch nicht? 
Eine schöne Studie zeigt zumindest genau das Gegenteil. Da wurde untersucht, ob Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene nach der Lektüre von „Harry Potter“ weniger fremdenfeindlich waren. Das ist tatsächlich der Fall. Die Leser:innen identifizieren sich stark mit Harry, der ja vom Hauself bis zum Halb-Riesen alle gleichermaßen mit Respekt behandelt und seine Freundin Hermine regelmäßig verteidigt, wenn sie aufgrund ihrer Herkunft als „Schlammblut“ diskriminiert wird.

Wer nur von Figuren liest, die dem ­eigenen Umfeld ähneln, lernt nicht viel Neues dazu. Gerade der Wechsel des Blickwinkels trainiert die Fähigkeit zur Einfühlung.

Constanze Schreiner

Färben Romanfiguren auch in anderer Hinsicht auf uns ab? Können wir durch sie zum Beispiel mutiger werden, fröhlicher oder hilfsbereiter?
Zumindest kurzzeitig ist das wahrscheinlich der Fall. Das kennt ja sicher jeder aus eigener Erfahrung. Ich weiß noch, dass ich mich als Kind nach der Lektüre von „Ronja Räubertochter“ deutlich wilder und verwegener gefühlt habe. Die Effekte können sogar noch skurriler sein. So wurden Studienteilnehmer:innen Passagen entweder aus „Harry Potter“ oder aus „Twilight“ vorgelegt. Anschließend sollten sie an­geben, wie sehr sie Aussagen wie „Ich habe das Gefühl, dass meine Eckzähne übermäßig spitz sind“ oder „Wenn ich mich ganz stark anstrenge, kann ich mit der Macht meiner Gedanken Gegen­stände bewegen“ zustimmen. Die „Twilight“-­­Gruppe tendierte dabei eher zu den Aussagen mit Vampirbezug, bei der „Harry ­Potter“-Gruppe war’s um­gekehrt. 

Wenn wir nun reihenweise Bücher von „alten, weißen Männern“ lesen, lassen wir uns dann auch von der konservativen Weltsicht ihrer Figuren anstecken?  
Um uns anstecken zu lassen, müssen wir uns auch mit den Figuren in den Geschichten identifizieren können. Teilen wir deren Einstellungen gar nicht, würde es eher dazu führen, dass wir uns von den Charakteren abgrenzen und im extremsten Fall das Buch ablehnen und weglegen. Aber ausschließlich Bücher von „alten, weißen Männern“ zu lesen, eröffnet uns auch keine neuen Welten.

Lohnt es sich also, möglichst ­divers zu lesen?
Durchaus. Bücher sind wie Trainingsgeräte für unser Einfühlungsvermögen. Wer nur von Figuren liest, die dem eigenen Umfeld ähneln, lernt nicht viel Neues dazu. Gerade der Wechsel des Blickwinkels trainiert unsere Fähigkeit zur Einfühlung. Wir sollten uns dabei aber auch nicht übernehmen. Sonst lesen wir den Roman vielleicht nicht zu Ende. Als junge Deutsche sollten wir uns also vielleicht nicht gleich einen Roman vornehmen, der im Korea des 12. Jahrhunderts spielt und von einer 90-jährigen Transperson handelt. Es fällt uns leichter, wenn wir eine Brücke haben. Wenn wir es zum Beispiel für den Anfang mit einem Roman versuchen, der von Koreaner:innen in Deutschland handelt. Auch hilft es, wenn wir im Hinblick auf die Einfühlung Fordernderes eher dann lesen, wenn wir nicht gerade völlig überarbeitet sind. Also zum Beispiel im Urlaub. 

Manchmal ist uns aber auch einfach nur nach was Leichtem zum Wegschmökern ...  
Forscher haben verschiedene literarische Genres verglichen und dabei herausgefunden, dass gerade Thriller und Liebesromane unser Einfühlungsvermögen besonders gut trainieren. Das liegt wahrscheinlich daran, dass es darin oft auch um Charakterentwicklung geht, um interessante psychologische Aspekte: Wenn wir uns etwa in die Psyche eines Serienkillers hineinversetzen müssen, der uns vielleicht nicht nur abstößt, sondern auch sympathische Züge hat. Über alle Genres hinweg gilt allerdings: Je anspruchsvoller die Literatur, desto stärker der Effekt. Aber selbst Groschen­romane sind immer noch besser, als gar nicht zu lesen. Also kein Grund für ein schlechtes Gewissen. •