Deutsch-französischer Jugendliteraturpreis

Die Shortlist 2021 steht

11. Mai 2021

Gesundheitsdiktatur, Zwangsehe, Vergangenheitsbewältigung: Die deutsch-französische Jury hat die Titel für die Shortlist des Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreises 2021 nominiert.

Die Shortlist

In diesem Jahr lag der Fokus turnusgemäß auf der Kategorie  "Jugendbuch". Anlässlich des Europatags stellte Doris Pack vom Vorstand der Stiftung für die deutsch-französische kulturelle Zusammenarbeit die nominierten Bücher vor und erinnerte an einen Satz des französischen Jugendbuchautors Jules Renard: "Alles, was man liest, hinterlässt einen keimenden Samen".

Nikola Huppertz: "Schön wie die Acht", Tulipan (ab 12)

Begründung der Jury: Die Mathematik ist Maltes Ordnungsprinzip fürs Leben, in der Welt der Zahlen fühlt er sich sicher. Als seine 17-jährige Halbschwester für einige Wochen einzieht, bekommt seine heile Welt Risse. Wie sein Vater zwei Frauen lieb haben konnte und welche Auswirkungen das hatte, wirft Fragen auf. Wie Malte sich ihnen langsam stellt, wie er sich neu definiert, wie er trotz Eifersucht, Wut und Verletzlichkeit reift und schließlich doch eine Beziehung zur Konkurrentin beim Mathe-Wettbewerb eingehen kann: Hier wird der Kampf zwischen Logik und Emotionen seziert. Psychologisch einfühlsam dröselt Nikola Huppertz das Chaos auf, balanciert Drama und Wortwitz aus, bringt Mathematik, Lyrik und Patchworkfamilie in Einklang. Das große Durcheinander, so wird klar – das ist das Leben.

Martin Schäuble: "Cleanland", Fischer KJB (ab 12)

Begründung der Jury: Aktueller könnte das Thema mit Blick auf die gegenwärtige Pandemie kaum sein. Martin Schäuble hat die fesselnd geschriebene Dystopie eines hygienediktierten Staats entworfen: Die normale Welt ist zum „Sickland“ geworden, während in der keimfreien Zone Ganzkörperanzüge und ein Überwachungssystem das angeordnete Verhalten der Menschen bestimmt. Schäuble lässt die Idee, die Gesundheit zu schützen, ins Rigorose, Totalitäre kippen; Rückzugsorte, Individualität und Intimität sind nicht mehr möglich. Und doch rebellieren der kleine Bruder ihrer Freundin und ihre Großmutter dagegen, schließlich plant auch Schilo selbst ihre Flucht ins "Sickland" mithilfe des "Cleaners" Toko. Eine gesellschaftliche Debatte wird hier literarisch inszeniert.

Grit Poppe: "Verraten", Dressler (ab 14)

Begründung der Jury: Eindrückliche Einblicke in zwei jugendliche Lebensläufe in der DDR 1986: die des 15-jährigen Sebastian und der Ausreißerin Katja. Grit Poppe hat intensiv über Heimerziehung und das Anwerben jugendlicher Stasi-Spitzel recherchiert; sie führt mit einfühlsamen inneren Monologen die Manipulierbarkeit von Menschen vor, zeigt Gewissenskonflikte und wie man sowohl mit Drohkulissen als auch mit schmeichelndem Vertrauen Jugendliche instrumentalisieren kann. Poppes sehr genauen, aufwühlenden Beschreibungen offenbaren, wie die Gesellschaft in totalitären Staaten funktioniert – wo muss ich mich unterwerfen, wo mache ich Kompromisse? Das Verlieren der menschlichen Würde ist, so wird deutlich, perfide geplant und systemimmanent.

Tamara Bach: "Sankt Irgendwas", Carlsen (ab 14)

Begründung der Jury: Protokoll auf einer Klassenfahrt zu führen, ist ein undankbares Schüleramt. Tamara Bach gelingt dagegen ein lebendiges O-Ton-Format, das zum Dokument des Zusammenhalts einer Klasse wird, die den selbstherrlichen Machtanspruch eines Lehrers erdulden muss und ihm mit großem Schweigen, Ratlosigkeit und gelegentlichen Auflehnungen begegnet. Bach beobachtet akribisch die Regungen der Zehntklässler*innen, schafft mit den Textsorten Pausenhofdialog, Brief, E-Mail und Protokoll eine fesselnde Dramaturgie. Geschickt hält sie den Spannungsbogen, bis auch der mürrische Busfahrer den Lehrer nicht mehr erträgt und ihn auf dem Parkplatz stehen lässt, um die Schüler*innen zum Sehnsuchtsort Meer zu fahren. Bach verdichtet das Atmosphärische: Ihr reichen 120 Seiten für die feinsinnige Revolte, auch das eine seltene Kunst. 

Verena Keßler: "Die Gespenster von Demmin", Hanser (ab 15)

Begründung der Jury: Geschickt kontrastiert Verena Keßler zwei Zeitebenen und Lebensläufe in der vorpommerschen Stadt Demmin: die 15-jährige Ich-Erzählerin Larry und ihre 80-jährige Nachbarin Lore Dohlberg, in der dritten Person erzählt. Während sich Larry für ihren Berufswunsch als Kriegsreporterin mental wie körperlich gegen den Schmerz abhärtet und auf Todeserfahrungen vorbereiten will, hat Lore Dohlberg das Sterben am eigenen Leib erfahren müssen: Sie überlebte den Massensuizid im Mai 1945 in Demmin, wo sich mehr als 500 Menschen umbrachten. In kleinste Details hat Keßler den Schrecken, das Staunen und auch die Annäherung an den jungen Timo verwoben, erzählt lakonisch, präzise, stilistisch durchkomponiert; in knappen Sätzen vermittelt sie, wie erschreckend Menschen mit Menschen umgehen können, damals wie heute. Und was Leben bedeutet. 

Antje Leser: "Luftschlösser sind schwer zu knacken", Magellan (ab 15)

Begründung der Jury: Das eine rosarote Liebesgeschichte verheißende Cover führt in die Irre. Denn der extrem packend erzählte Roman, in dem die Leser*innen von der ersten Seite an "drin" sind, behandelt ein eher seltenes Thema im Jugendbuch: Clankriminalität und Menschenhandel. Ein als Kind verkauftes und als Diebin ausgebildetes Mädchen aus Osteuropa und ein behüteter Junge treffen aufeinander, aber eine unbeschwerte Liebe ist undenkbar: Fast unmöglich sind die Ausstiegschancen für das Mädchen, die Brutalität des Clans grenzenlos. Ohne Pathos, aber mit viel Gefühl beschreibt Antje Leser temporeich und dialogstark aus der Mädchen- wie der Jungenperspektive eine jugendliche Biografie, die sich viele Leser*innen kaum vorstellen können und die doch mitten unter uns ist.  

Die Nominierten in französischer Sprache

Rachel Corenblit: "Les enfants du Lutetia", Les Éditions du mercredi
Delphine Pessin: "Deux fleurs en hiver", Didier Jeunesse
Gaël Aymon: "Silent Boy", Nathan
Patrick Bard: "Le secret de Mona", Éditions Syros
Clémentine Beauvais: "Âge tendre", Sarbacane
Jo Witek: "J’ai 14 ans et ce n’est pas une bonne nouvelle", Actes Sud Junior

Das Video der Shortlistpräsentation ist hier verfügbar.
Weitere Informationen zum Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis finden Sie auf der Website www.df-jugendliteraturpreis.eu.