KOLUMNE

Ein anderes Leben wagen

6. April 2023

Christine Westermann empfiehlt Lektüre ­abseits der aktuellen Bestsellerlisten - Lektüre, die auch das Wiederlesen lohnt. Heute: „Der Hut des Präsidenten“ und „Nicht mein Ding“.

Kleider machen Leute, heißt es seit Gottfried Keller, dabei braucht es manchmal nur einen gescheiten Hut, um Dinge zu verändern. Einen Hut mit magischen Kräften, der seinen Trägern Mut verleiht, ihre Träume zu verwirklichen. Die große Liebe zu finden, ein meisterhaftes Parfum zu kreieren, ein beliebter Chef zu werden. 
„Der Hut des ­Präsidenten“ (btb, 224 S., 10,99 €) beginnt in einer Brasserie in Paris. Als der französische Präsident Mitterrand dort seinen Hut vergisst, nimmt sein Tischnachbar ihn mit, setzt ihn auf, und wenig später ist das Leben des unscheinbaren Buchhalters Daniel ein anderes. Leider vergisst er den Hut im Zug, dort findet ihn Fanny, probiert ihn an, trennt sich kurz darauf von ihrem verheirateten Liebhaber, verliebt sich neu. Als sie den Hut auf eine Parkbank legt, findet ihn ­Pierre, und weil das Hütchenspiel so weitergeht, werden noch einige Menschen in dieser Geschichte sehr glücklich werden. Was für eine berückende Idee: Man setzt einen Hut auf und plötzlich wird man der, der man gern wäre. Findet die Kraft, seine Träume zu leben. Wenn das Wort charmant auf ein Buch zutrifft, dann sicher auf dieses. Der Roman spielt mitten im Leben der Franzosen. Ist gespickt mit Anekdoten aus ihrem Alltag, dem politischen Leben, aus der Welt der Kunst und der Literatur. Ich mag, wie Antoine ­Laurain schreibt, wie seine Geschichten miteinander verwoben sind. Ihm gelingt ein zauberhafter Schluss, der alles offenlässt. Und doch alles erklärt. 
Es geht aber auch ohne Zauberhut im Leben, man muss sich nur (ver)trauen. Der Roman „Nicht mein Ding“ (Knaur Taschenbuch, 240 S., 12,– €) der US-­Autorin Jami Attenberg spielt in New York. Im Mittelpunkt: Andrea, Ende 30, Single. Wie kommt man klar, wenn die Freunde um einen herum heiraten, Kinder kriegen und happy scheinen? Während man selbst von Affäre zu Affäre stolpert, nicht wirklich weiß, wie das gehen soll mit dem Leben und dem Glücklichsein? Andrea hadert, zweifelt, aber dann ist sie es leid, sich für ihr Anderssein vor den Freunden und der Familie rechtfertigen zu müssen. Jami Attenberg zeichnet das faszinierende Bild einer Frau, die um ihre Unzulänglichkeiten weiß und sich dennoch nicht verbiegen lässt. Sie macht ihr Ding. Wie ihr das nach und nach gelingt, davon erzählt der Roman ohne erhobenen Zeigefinger, klug, witzig, schnörkellos. Im nächsten Leben werde ich so wie sie, dachte ich beim Lesen manchmal. Aber vielleicht bin ich es ja auch schon. •

Die Kolumnistin

Christine Westermann ist Autorin und Journalistin. Sie arbeitet seit vielen ­Jahren für das Fernsehen und den ­Hörfunk des WDR, war Mitglied beim ­„Literarischen Quartett“ und moderierte zusammen mit Götz Alsmann die ­Sendung „Zimmer frei“.