75. Frankfurter Buchmesse

„In Frankfurt ist alles zugleich“

6. Oktober 2023

Hanser zählt zu jenen Verlagen, die schon 1949 bei der Premiere in Frankfurt dabei waren. Verleger Jo Lendle über sein Faible für die Buchmesse am Main und deren ­Bedeutung für die Branche. 

Herr Lendle, wenn Sie ein stetes Gefühl benennen sollten, das Sie auf der Frankfurter Buchmesse begleitet, welches wäre es?
Immer das Gefühl, ich sollte nicht nur das tun, was ich gerade mache, sondern Zeit haben, richtig einzutauchen. Alles andere ist eigentlich Verschwendung. Dafür konzentriert sich einfach zu viel Schönheit und Wissen auf dem engen Raum der Messe.       

Erinnern Sie sich an Ihre Anfänge?
Ich war 1997 das erste Mal auf der Frankfurter Buchmesse, damals in Diensten von DuMont. Der Verlag hatte noch kein eigenes Literaturprogramm, das kam erst ein Jahr später. Ich brauchte also keine Bücher vorzustellen, sondern war einfach nur da, um mit Leuten zu sprechen. Das war so ein Jahr zum Eintauchen. 

Was ist das Besondere an Frankfurt?
Jede Messe hat ihr eigenes Profil. Nach London fahren wir ausschließlich, um Rechte zu kaufen und zu verkaufen. Eine Deal-Messe. In Paris und New York sind es die Autoren, die man trifft, und in Italien kommen zur Kinderbuch­messe die ganzen Illustratoren dazu. So gibt jede Messe dem Ganzen eine andere Färbung. Aber in Frankfurt ist immer alles zugleich: die Autorinnen und Autoren, der Buchhandel, das Feuilleton, viele Politiker und dazu all die Verlage und Agenturen aus der ganzen Welt. Das macht Frankfurt für mich aus: die Gleichzeitigkeit aller Aspekte unserer Arbeit. 

Sie kommen jedes Jahr an den Main?
Ja. Montagfrüh hin, Sonntagnacht zurück. 

Das volle Programm. Und danach erst mal Urlaub, um sich zu erholen? Nein, am nächsten Morgen geht’s weiter, man muss sich ja um die angebahnten Geschäfte kümmern und lesen, was einem angetragen wurde. 
Sie sprachen von der Gleichzeitigkeit als prägendem Aspekt der Messe …  … ja, und an den Rändern stehen wie Säulen zwei Veranstaltungen, die das zelebrieren, worum es wirklich geht: am Montag der Deutsche Buchpreis, der das Erzählen, die Lite­ratur preist, und am Sonntag der Friedenspreis, der – pathetisch gesprochen – die Weisheit feiert. Das ist unentbehrlich, denn dieser Kern des Literatur­geschäfts wird im Alltag gern mal übersehen.

Hanser ist von Anfang an auf der Frankfurter Buchmesse dabei gewesen. Ist da etwas ganz Unverbrüchliches entstanden? Ich bin rundum überzeugt von Frankfurt. Ich glaube daran, dass die Messe eine Kraft hat – durch die Zusammenrottung, die Konzentration–, die wir einzeln nicht entwickeln könnten. Ich weiß aber auch, dass es ungemein verführerisch war, zu sehen, wie viel Geld die Verlage gespart haben, als sie während Corona nicht nach Frankfurt gefahren sind. Dabei erhalten die Bücher und wir bei der Messe die preiswerteste Aufmerksamkeit, die es gibt.  

Was hat Ihnen am meisten gefehlt während der Corona-Zeit? Dass die Neuen nicht richtig reinkommen, die Debütautor:innen ebenso wenig wie die Neuen in den Verlagen. Dass sie den Zauber nicht erleben, nicht feierlich im Literaturbetrieb aufgenommen werden. Die Branche lebt davon, dass jedes Jahr ein paar Leute sagen: Das möchte ich nie wieder missen. Meine Sorge war, dass die Buchbranche vertrocknet, wenn wir über Jahre hinweg nur noch vor uns hin schreiben und lesen und arbeiten, aber nicht mehr die besondere Zuspitzung auf der Messe erleben. 

Können Sie das auf der Messe trennen, Verleger und Buchautor? 
Als Verleger geht es mir zuerst um unsere Autorinnen und Autoren; ich versuche im Blick zu behalten, wer gerade auf dem „Blauen Sofa“ sitzt, wer auf der ARD-Bühne und wer gerade einen Preis erhält. Mit eigenem Buch kommt ein weiterer Spagat dazu – irgendwann wird das ein Tausendfüßlerspagat. Das erfordert chamäleonartiges Verhalten, aber das wird auf der Messe, bei der man pausenlos in unterschiedlichste Situationen gerät, ja generell belohnt.  

Sie haben den Deutschen Buchpreis erwähnt. Ihr Verlag hat einmal zur Premiere 2005 abgeräumt, danach nicht mehr. Was sagt der Verleger dazu? Unerträglich! (Lacht.) Als Arno Geiger den Preis bekam,  war ich noch nicht bei Hanser. Und seitdem drücken wir regelmäßig bei der Preisverleihung die Daumen, weil fast immer jemand von uns nominiert ist, im vorletzten Jahr waren drei der sechs Nominierten von Hanser. Dass wir am Ende leer ausgehen, ist ­natürlich ein Skandal (lacht).

Dafür durften Sie über den Literaturnobelpreis jubeln. Etwa bei Patrick Modiano 2014. Es gibt Jahre, in denen die Bekanntgabe auf die Messe­tage fällt. Bei Modiano war das der Fall. Da war sofort klar: Die Verabredungen, die auf der Messe ja im 30-Minuten-­Takt liegen, kann ich für den Rest des Tages alle vergessen. Nun geht es um anderes.

Bereiten Sie sich auf solche Ereignisse vor? Man kann nicht ins Blaue hinein drucken. Es wabern im Vorfeld der Literaturnobelpreisvergabe zu viele Gerüchte. Bei Modiano waren wir tatsächlich blank, weil es in diesem Jahr keine Neuerscheinung von ihm gab. Und die Backlist tragen wir ja nicht nach Frankfurt. Da mussten wir Nachtschichten einlegen, um Bücher an den Stand zu bringen.  

Und Herta Müller 2009? Das war ein absolutes Ausnahmejahr. Anders als Modiano war sie ja keine übersetzte Autorin, sondern Hanser war ihr Originalverlag, nachdem sie kurz vorher hergewechselt war. Ich kenne es nur aus Erzählungen, aber der ganze Verlag war wochenlang im Ausnahmezustand, um Büchernachschub zu organisieren und Lizenzgespräche zu führen.

Wenn man sich die Chronik der Frankfurter Buchmesse anschaut, sieht man: Hier war oft der Ort, an dem die Gesellschaft ihre aktuellen Probleme verhandelt hat. Gilt das weiterhin? Absolut. Das kann man beim Umgang mit rechten Verlagen sehen. Es geht um einen immer wieder neu auszutarierenden Widerspruch: Wir stehen für Meinungs- und Redefreiheit, aber wir haben auch Dinge, die nicht verhandelbar sind – die Würde und Gleichheit der Menschen, um nur ein Beispiel zu nennen. Beides sind hohe Güter, die oft miteinander ringen. Den Widerspruch müssen wir stets aufs Neue verhandeln und begründen. Das ist anstrengend, aber nötig. 

Messeroman, wäre das ein Genre für Sie als Autor? Um Himmels willen. Für mich selbst käme das nicht infrage, aber womöglich wäre es interessant. Die Messe als Anstalt mit dem ungeheuren Druck, der in kurzer Zeit auf jedem lastet, die Vielstimmigkeit, die Eitelkeiten, das ergäbe schon Stoff.    

Was macht Ihnen am meisten Spaß an Ihrem Job?
Am ehesten alles. Ich will nicht nur plaudern, nicht nur lesen, nicht nur managen, nicht nur verhandeln; die Vielstimmigkeit ist es, die mich reizt. • Interview: Marcus Meyer

Über den Gesprächspartner

Jo Lendle hat Kulturwissenschaften und Animation Culture in Hildesheim und Montreal studiert. Der 55-Jährige ist seit 2014 Verleger des Carl Hanser Verlags ­(nach 15 Jahren als verlegerischer ­Geschäftsführer bei DuMont), dazu ­Mitherausgeber der Zeitschrift „Akzente“ und Mit­begründer des PEN Berlin. 
Jo Lendle war der erste Absolvent des Leipziger ­Literaturinstituts. Letzte ­Romane: „Was wir Liebe nennen“ (2013) und „Eine Art Familie (2021).