Chronist seiner Zeit

Friedrich Christian Delius ist tot

31. Mai 2022

Der Schriftsteller und Büchner-Preisträger Friedrich Christian Delius ist am 30. Mai mit 79 Jahren in Berlin gestorben, wie die Rowohlt Verlage mitteilen. "Er war ein Seismograph individueller und gesellschaftlicher Erschütterungen", würdigt ihn sein Lektor Gunnar Schmidt.

Deutsche Geschichte und Mentalitätsgeschichte gespiegelt

Friedrich Christian Delius gelte seit fast sechs Jahrzehnten als herausragender Chronist seiner Zeit, so die Rowohlt Verlage in einem Nachruf, hat in dieser Spanne mehr als fünfunddreißig Bücher veröffentlicht. Diese hätten sich zu einem Werk gefügt – einem Werk von großer Beständigkeit, von großer Klarheit und Kraft. Zugleich habe er – Erzähler, Spieler, Poet – stets durch Vielseitigkeit und die Musikalität seiner Prosa bestochen.

"Im Februar 1943 in Rom geboren, wo sein Vater Pfarrer der Deutschen Evangelischen Kirche war, in Hessen aufgewachsen, ging er seinen Weg in die Welt", fährt der Verlag fort: "Mit 18 veröffentlicht er seine ersten Gedichte, 1964, mit 21, ein Jahr nach seinem Abitur, stößt er zur Gruppe 47; er ist 22, als sein erstes Buch, der Gedichtband 'Kerbholz', im Wagenbach Verlag erscheint. 29 schließlich, als Siemens gegen seine 1972 erschienene Dokumentarsatire 'Unsere Siemens-Welt' einen Prozess anstrengt und er dem Weltkonzern Paroli bietet."

Delius‘ Romane und Erzählungen, übersetzt in mehr als zwanzig Sprachen, würden deutsche Geschichte und Mentalitätsgeschichte spiegeln, lassen die wichtigen Zäsuren nach dem Zweiten Weltkrieg lebendig werden: "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde" etwa sei an das Schlüsseljahr 1954 geknüpft, an das "Wunder von Bern", "Amerikahaus und der Tanz um die Frauen" an die Aufbruchsstimmung, die zu spüren gewesen sei, bevor es zu den ideologischen Verhärtungen von ’68 kam, die Deutsche-Herbst-Trilogie an den Terror der RAF, "Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus" an die Erfahrung der deutschen Teilung, "Die Birnen von Ribbeck" an die deutsche Wiedervereinigung.

"Fleißig über die Grenze geschmuggelt"

Und da sei der Mittler zwischen Ost und West, der wie nur wenige andere Schriftsteller geholfen hat, Autoren aus der DDR im Westen bekanntzumachen, auch in seinem knappen Jahrzehnt als Lektor, zuerst für den Wagenbach Verlag, dann für den Rotbuch Verlag. In den sechziger und siebziger Jahren habe Delius fleißig über die Grenze geschmuggelt, "aber immer nur wenige Seiten", habe er sich erinnert, "einiges von Biermann, Gedichte von Kunert, Berger, Mickel, Bartsch bis hin zu ein paar Sachen von Brasch und Heiner Müller, zum Beispiel die 'Hamletmaschine', die ja so dünn ist, dass sie unauffällig unter das Unterhemd passte, im Gürtel eingeklemmt. Wenn man sich gerade hält, ist das kein Problem."

Delius habe sich nie wie ein Historiker bewusst einem Stoff zugewandt, sein Schreiben ging ganz auf seine Zeitgenossenschaft zurück, auf die Fragen, die er an die unmittelbare Gegenwart hatte, auf den Versuch, sie zu verstehen. Auch die autobiographisch gefärbten Werke seien entstanden, als für ihn die Fragen an die eigene Lebens- und Familiengeschichte drängend wurden. Lange sei Delius mit Selbstauskünften recht zurückhaltend gewesen, "heute jedoch gehören diese autobiographischen Erzählungen mit zu seiner stärksten Prosa, sei es 'Bildnis der Mutter als junge Frau''Die Zukunft der Schönheit' oder sein zuletzt, 2021, erschienener Erzählungsband 'Die sieben Sprachen des Schweigens'", so Rowohlt.

Friedrich Christian Delius zählt zu den bedeutendsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur. Vielfach ausgezeichnet, wurde er 2011 mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Er war Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste Berlin.

"Seine Stimme wird fehlen"

Rowohlt-Berlin-Verleger Gunnar Schmidt, der auch sein Lektor war, sagt: "Friedrich Christian Delius hat als Zeitgenosse geschrieben, als wacher Beobachter, aus dem Fluss der Dinge heraus – dicht an der Gegenwart, dicht am Leben. Er war ein Seismograph individueller und gesellschaftlicher Erschütterungen, ein feinnerviger Porträtist seiner Zeit, der lyrische Elemente mit dokumentarischen verwebt. Ein Autor, der sich hochsensibel in seine Figuren einfühlt und zugleich souverän das Leben aufschlüsselt, in das diese hineingestellt sind, der, allergisch gegen alles Ideologische, das Abstrakte nicht liebt. Ein Autor mit Neugier auf die Welt, mit Phantasie, Intuition und Menschenkenntnis. Seine Stimme wird fehlen."