Social Media

Instagram goes Sachbuch

12. Oktober 2023

Das gedruckte Wort ist in Zeiten der Digitalisierung längst nicht mehr das alleinige Maß der Dinge. Dass es unverändert attraktiv ist, zeigt allerdings eine neue Fülle von Sachbüchern, die ihren Anfang in den oft als seicht belächelten sozialen Netzwerken nahmen. ­Versuch einer Image-Korrektur.

Schminke, Reisen, Fitness – mit „Influencer:innen“ ­assoziieren viele: Profile in sozialen Netzwerken, auf denen normschöne Menschen Lifestyle­produkte in die Kamera halten. Mit ­einem verengten Themenspektrum von Infinity-Pool bis Partyrezept wird man der Branche allerdings längst nicht mehr gerecht. Zwar belegen die Spitzenpositionen bei der Followerschaft auf Instagram, TikTok und Co. unverändert solche Themen, doch immer mehr kleine und mittlere Accounts sensibilisieren für gesellschaftspolitische Problemfelder und haben die Plattformen als Schauplatz relevanter Debatten etabliert.

Diesen Trend spiegeln auch die Sachbuch-Programme der Verlage. „Viele aktuelle Themen werden nicht mehr exklusiv im Fernsehen oder in den Printmedien diskutiert“, sagt Anne Stadler, Programmleitung Sachbuch beim Piper Verlag. Stimmen, die auf Social Media Gehör fänden, seien „auch für uns interessant“. Schwierigkeiten habe sie indes mit dem Begriff „Influencer:in“ – eine Einschätzung, die sie mit vielen Influencer:innen teilt.
Die Germanistin Teresa Reichl seziert auf ihren Profilen den deutschen Literaturkanon und gibt parallel Tipps für den gelungenen Lidstrich. Sie bewirbt Periodenunterwäsche und positioniert sich gegen Misogynie und für die Normalisierung diverser Körperformen. Sie bewegt sich damit im Spannungsfeld zwischen Aktivismus, Infotainment und marketingbasierter Gegenfinanzierung. „Ich betrachte Influencertum deshalb eher nicht als Jobdefinition, sondern als Bezahlmodell: Ich lasse mir Werbung bezahlen, damit ich mir davon meine aktivistische Arbeit leisten kann“, sagt sie. Sie achte genau darauf, was sie bewerbe: „Es gibt ­einen Unterschied zwischen Accounts, die ausschließlich Dinge verkaufen, und politisch aktivistischen Influencer:innen“. Sie lege Wert darauf, dass aktivistischer Inhalt und Werbung einander nicht widersprechen.
Ihr Buch „Muss ich das gelesen ­haben?“ entwickelte sich aus ihrer Beitragsreihe „But make it classy“, die kaum unwirtschaftlicher sein könnte: Reichl fasst deutsche Literaturklassiker von Goethe bis Brecht zusammen und hinterfragt die darin tradierten sozialen Rollenzuschreibungen und Verhaltensmuster. Das Buch sei für sie eine Möglichkeit gewesen, inhaltlich stärker in die Tiefe zu gehen, und habe ihre Zielgruppe erweitert, sagt sie, „ich bekomme jetzt E-Mails von Leser:innen, die kein Social Media haben“.­

@teresareichl

„Ein Buch ist ein Weg, sich für seine Arbeit direkt bezahlen zu lassen. Um das zu schreiben, braucht man aber ­einen Verlag, der das mit einem machen will. Die Followerschaft im Internet hilft, zu beweisen, dass ein Thema relevant ist. Social Media funktioniert also in vielerlei Hinsicht direkt – und umgekehrt wie der Buchmarkt. Das bietet die Chance, Themenfelder zu erschließen, die noch niemand auf dem Schirm hat.“
Teresa Reichl @teresareichl

Eine ähnliche Entstehungsgeschichte liegt hinter „Professor Schwurbelstein und die Aluhüte des Grauens“ von Paul-Eduard Rück, der sich unter dem Pseudonym Professor Schwurbelstein Verschwörungsmythen, esoterischen Hokuspokus und Rechtspopulisten vorknöpft. Was er auf Facebook und Insta­gram „just for fun“ begann, erfordere mittlerweile viel Recherche, „weil viele Follower Interesse zeigen und dadurch meine Ansprüche an meine Beiträge ­gestiegen sind“. Auch für ihn führte der direkte Zugang zur Zielgruppe zum Buch – nicht umgekehrt.
 

@Professor_Schwurbelstein

„Es gibt das Vorurteil, junge Menschen würden ihre Zeit sinnlos im Internet verplempern. Aber Social ­Media ist nicht nur Quatsch. Es geht dabei um wichtige gesellschaftliche Themen, um kreative Ideen und Perspektiven. Ich weiß nicht, ob ich mich dazu auf­gerafft hätte, überhaupt ein Manuskript an­zufangen, wenn man nicht über den Umweg des Accounts auf mich zugekommen wäre.“
Paul-Eduard Rück @Professor_Schwurbelstein

Rück ist hauptberuflich Buchhändler. In der jüngsten Vergangenheit hätten vermehrt „junge und diverse Themen den Weg in den Buchhandel geschafft“, hat er beobachtet und mutmaßt: „Das wäre ohne Social Media in dieser ­Menge wohl nicht möglich gewesen.“ Anne Stadler vom Piper Verlag bestätigt den niederschwelligeren Zugang für ­Autor:innen: „Die Resonanz auf diesen Plattformen bringt Menschen dazu, sich Autorentätigkeit zuzutrauen, weil sie merken, dass ihr Thema relevant ist.“ Das sei begrüßenswert, „weil in einer Gesellschaft nicht nur Menschen zu Wort kommen sollten, die schon etabliert sind“.

Autor:innen, deren publizistische Laufbahn in sozialen Netzwerken beginnt, beeinflussen nicht nur die Themensetzung, sondern verstärken auch die ­Verquickung von Sachthemen mit persönlichem Erleben. „Im angelsächsischen Raum ist das schon länger üblich“, weiß Stadler. Reichl hofft, „dass sich das durchsetzt. Ich will kein Buch über Behinderung von ­einer nicht behinderten Person lesen.“ 
 

Persönliche Betroffenheit dürfe man keinesfalls mit der Unfähigkeit verwechseln, sachlich zu schreiben, betont Reichl. Vielmehr eröffne sie speziell im Fall marginalisierter Bevölkerungsgruppen eine Perspektive, die die Mehrheitsgesellschaft nicht habe. Die Inklusionsaktivistin und -beraterin Luisa L’Audace setzt mit ihrem Buch „Behindert und stolz“ an der Stelle an, an der die Außen­­ansicht nicht Betroffener mangels Erfahrung an ihre Grenzen stößt.

@luisalaudace

„Inklusion geht uns alle etwas an. Ich bin als behindertes Kind in einem ­able­istischen System aufgewachsen und möchte zeigen, was das bedeutet. In unserem System gab es einfach keine passende Schublade für mich. So blieb mir nicht viel anderes übrig, als mir eine eigene zu bauen. Das Buch ist für alle, die anerkennen, dass diese Welt nicht gerecht ist, sie längst nicht alle Lebensrealitäten mitdenken – und die dies ändern wollen.“
Luisa L’Audace  @luisalaudace

Auch Hami Nguyen gehört zu den gesellschaftspolitischen Influencer:innen, die ihre Followerschaft an Alltagserfahrungen teilhaben lassen. Sie bezeichnet sich selbst als in einer mehrheitlich weißen und von strukturellem Rassismus durchzogenen Gesellschaft „unfreiwillig aktivistisch“ tätige Person. Das zentrale Thema ihres Accounts und in ihrem Buch „Das Ende der Unsichtbarkeit“ ist antiasiatischer Rassismu­s. 
Der interaktive Charakter sozialer Netzwerke hat laut Stadler aber noch ­einen weiteren Effekt. Es entstehe nicht nur „eine besondere Nähe“ zwischen Autor:innen und potenzieller Leserschaft, häufig gingen einem Buch auch intensive Debatten innerhalb einer informierten Bubble voraus. „Daraus ergibt sich eine andere Auseinandersetzung, als wenn Menschen im stillen Kämmerlein allein über etwas nach­gedacht haben“, sagt sie. Auch der Umstand, dass die Autor:innen ihre Zielgruppe gleich mitbringen, schadet sicher nicht. •

@hamidala

„Wessen Geschichten werden erzählt? Und von wem? Für mich haben soziale Netzwerke eine wichtige Bedeutung bekommen. Denn sie sind eine gute Möglichkeit der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe, besonders für marginalisierte Menschen. Öffentliche Diskurse wurden lange Zeit von einer Handvoll privilegierter Menschen gegatekeept. Diese arbeiten in der Politik oder beim Fernsehen, Funk und bei der Presse. Sie gehören oft zur weißen Dominanzgesellschaft. Mit­hilfe sozialer Medien erhalten nun viel mehr Menschen Beachtung und haben die Möglichkeit, ihre Lebensrealität zu zeigen. Sie bekommen einen vorher nicht da gewesenen diskursiven Einfluss.“
Hami Nguyen  @hamidala