Daniel Speck: JAFFA ROAD

Die Erinnerung der anderen

3. Mai 2021

Ein Mann, drei Familien, drei verschiedene Lebenswelten: „Jaffa Road“ von Daniel Speck erzählt eine mitreißende Geschichte vom Finden der Heimat und ihrem Verlust, von Liebe und Feindschaft und von einer Spurensuche zwischen Deutschland, Israel und Palästina.

Als der Exildeutsche Moritz Reincke erschossen in seinem Haus in Palermo aufgefunden wird, reisen seine deutsche Enkelin Nina und seine israelische Tochter Joëlle nach Sizilien. Dort treffen sie zu ihrer Überraschung auf ­einen unbekannten Angehörigen: den Palästinenser Elias, Moritz’ Sohn. Die drei beginnen, das Puzzle ihrer Familiengeschichten zusammenzusetzen: Für Ninas Familie war Moritz ein Verschollener, ein Geheimnis, ein Tabu. Für Joëlle war er ein geliebter ­Vater, der ihr seine wahre Identität verschwieg. Und für Elias war er ein Feind. Ein Mann mit drei Leben, gesehen mit den Augen dreier Frauen, die er liebte. 

In seinem Roman „Jaffa Road“ beschreibt Daniel Speck drei gegensätzliche Welten, die in einer einzigen Familie aufeinanderprallen, und dank seiner klaren Prosa wird jede dieser Welten nachvollziehbar. Moritz’ Leben ist ein Brennglas, in dem sich das Schicksal des Nahen Ostens spiegelt, und seine Nachkommen müssen alte Feindschaften überwinden, um eine gemein­same Zukunft zu finden. „Jaffa Road“ ist ein ebenso zarter wie wuchtiger Roman, der von Liebe erzählt und von Verlust, von der Suche nach einer Heimat und von einer Vergangenheit, die bis in die Gegenwart nachwirkt. 

Interview mit Daniel Speck

"Meine Heimat sind Geschichten"

Ihr neuer Roman beginnt in Palermo. Warum?
Daniel Speck: Auf Sizilien kreuzen sich die Kulturen des Mittelmeers. Dass sich dort die drei Hauptfiguren begegnen, um ihre Geschichten zu erzählen, war eine logische Wahl. In Palermo existieren immer mehrere Geschichten gleichzeitig; Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander, das Aushalten von Ambivalenzen ist dort Alltag.

Die erste Geschichte, die dort erzählt wird, führt ans östliche Ufer des Mittelmeers, in die Jaffa Road …  
Die Jaffa Road am Hafen von Haifa ist ein bunter, lebendiger Mikrokosmos  und zugleich eine Metapher: eine Straße, die nicht in der eigenen Stadt endet, sondern in eine andere Stadt führt. Sie beginnt in der Altstadt von Haifa, wird zur Landstraße, und wenn man ihr eine Stunde folgt, kommt man nach Jaffa. In Haifa findet Joëlles jüdische Einwandererfamilie ein neues Zuhause. Und am anderen Ende der Straße, in Jaffa, lebt eine palästinensische 
Familie von Orangenfarmern, die ihr Zuhause verliert. Sie kennen sich nicht, und doch sind ihre Schicksale miteinander verbunden. 

In Ihrem Roman nehmen Sie eine israelische, aber auch eine palästinensische Perspektive ein. Wie sind Sie an diese Aufgabe herangegangen?
Es war eine spannende Herausforderung, weil die Erzählungen der zwei Völker sich scheinbar ausschließen, aber zwischen Mittelmeer und Jordan parallel existieren. Auf meinen Recherchereisen habe ich gelernt, diesen Kontrast als bereichernd zu erleben. Ich habe verschiedene Familien getroffen und ihre Geschichten gehört. Wenn man jemanden aus seiner Familiengeschichte heraus begreift, erschließt sich seine menschliche Tiefe. In meinem Buch habe ich versucht, allen Charakteren mit der gleichen Empathie zu begegnen. 

Daniel Speck
Jaffa Road

FISCHER Taschenbuch, 
672 S., 16,99 €,
ISBN 978-3-596-70384-5

Dann erzählen Sie aus deutscher Perspektive von der Archäologin Nina, die in ihrer Familiengeschichte nach der Wahrheit sucht …
Nina holt eine Erinnerung nach der anderen hervor und sieht, dass die Stücke nicht zusammenpassen. Was an unserem Familiengedächtnis sind Mythen? Was sind bequeme Halbwahrheiten? Was sind Tabus, über die niemand spricht, die aber der Schlüssel zur Wahrheit sind? Nina kann das Rätsel nur lösen, wenn sie auch die Geschichte der anderen einbezieht. Ein Satz im Buch lautet: „Wer die ganze Wahrheit wissen will, muss dem eigenen Gedächtnis misstrauen und sich selbst in der Erinnerung  der anderen suchen.“

Es geht um den Verlust der Heimat und den Versuch, sich eine neue Heimat zu erschaffen. Was ist für Sie Heimat? 
Meine Heimat sind Geschichten. Dort kann ich mich selbst in der Haut eines anderen finden. Ganz bei mir sein und zugleich die Vielfalt der Welt umarmen. So können auch meine Leser und Leserinnen in verschiedene Identitäten eintauchen. In „Jaffa Road“ haben die Figuren unterschiedliche ­Haltungen zu ihrer Heimat. Ninas Mutter will als Stewardess dem muffigen Treptow entfliehen; Heimat ist für sie ein reak­tionärer Begriff. Für Joëlles israelische Familie ist Heimat ­etwas, das erschaffen werden will. Für Elias’ palästinensische ­Familie ist Heimat eine Identität, die sie im Exil zu ­bewahren versuchen. Und Moritz, die Hauptfigur, sucht ein ­Leben lang nach einem Zuhause, aber immer wenn er meint, er sei angekommen, rinnt es ihm durch die Finger. 

An einer Stelle heißt es: „Je weniger Ahnung, desto mehr Meinung. Zuhören, wirklich zuhören, gefährdet die eigene Meinung.“ Was ist Ihr Anliegen als Erzähler?
Ein Buch ist eine Tür in der Mauer, die unsere Wahrnehmung begrenzt. Sobald man die Geschichte der anderen hört, öffnet sich eine neue Perspektive. In „Jaffa Road“ erzählen Elias, Nina und Joëlle, und jede Erzählung ist eine Tür in eine andere Welt. Heute leben wir mehr und mehr in Filterblasen, mich aber interessiert der Moment, wenn sie sich berühren. Das ist nie einfach, aber genau da beginnt Literatur. 

Hat Ihnen Ihre Erfahrung als Drehbuchautor beim Schreiben geholfen?
Als Drehbuchautor lernt man, Geschichten zu strukturieren, weiß um die Kraft eines wendungsreichen Plots, der die Handlung vorantreibt. Ich mag keine Bücher, die sich auf einer Sprachebene verkünsteln und darüber vergessen, eine Story zu erzählen. Sprache ist nie Selbstzweck. Wenn man auf eine gute Geschichte vertrauen kann, findet sich ihre Sprache von selbst. 

Inwieweit hat die Arbeit an „Piccola Sicilia“ und „Jaffa Road“ Sie verändert?
Eines habe ich gelernt: Es ist besser, zu wissen, dass man nichts weiß, als zu glauben, man wüsste schon alles. 

Text und Interview: Irene Binal

Über den Autor

Daniel Speck, geboren 1969, baut mit seinen Geschichten Brücken zwischen den Kulturen. Er studierte Filmgeschichte und verfasste die Drehbücher zu „Maria, ihm schmeckt’s nicht“ und „Zimtstern und Halbmond“. Für „Meine verrückte türkische Hochzeit“ erhielt er unter anderem den Bayerischen Fernsehpreis. Specks Debütroman „Bella Germania“ stand 85 Wochen auf der Bestsellerliste und wurde für das ZDF verfilmt. Sein Roman „Piccola Sicilia“ war ebenfalls ein Bestseller; er erzählt die Vorgeschichte zu „Jaffa Road“. Beide Bücher kann man aber auch unabhängig voneinander lesen.