Kazuo Ishiguro: KLARA UND DIE SONNE

Die künstliche Freundin

4. März 2021

Der britische Nobelpreisträger legt mit dem Roman „Klara und die Sonne“ ein neues Meisterwerk vor: Es entwirft eine bestürzend glaubhafte Dystopie – aus dem Blickwinkel eines weiblichen Androiden.

Was macht einen Menschen einzigartig, besonders? Was haben wir einer hoch entwickelten künstlichen Intelligenz noch voraus? Lässt sich unsere Sterblichkeit abschaffen? Was meinen wir, wenn wir von Liebe reden? Gewichtige Fragen in einem Buch aufzuwerfen ist bekanntlich noch kein Alleinstellungsmerkmal für einen Schriftsteller – zumal für ­einen Literaturnobelpreisträger. Doch Kazuo Ishiguro versteht es wie kaum ein anderer, Romane zu verfassen, die tiefgründig sind und trotzdem unterhaltsam – weil sie durch außergewöhnliche Einzelschicksale berühren. 

Mit der Heldin seines neuen Romans hat der Autor nun eine Ich-Erzählerin geschaffen, die sogar im Science-Fiction-Genre ihresgleichen sucht. Klara, die rückblickend „ihre Erinnerungen sortieren und in die richtige Reihenfolge bringen“ will, ist ein weiblicher Androide: ein mit Solarenergie betriebener hübscher Roboter, entwickelt als künstliche Freundin für Kinder und Jugendliche. Zum Verkauf angeboten in einem Spielwarengeschäft, sehnt Klara den Tag herbei, an dem sie ihr „Zuhause“ findet. Und sie scheint es gut getroffen zu haben, als sie von Josie, geschätzte „vierzehneinhalb“, und ihrer Mutter ausgewählt und mitgenommen wird in ein recht idyllisch gelegenes, luxuriös anmutendes Haus außerhalb der Stadt. Kann Klara Josie erfolgreich vor Einsamkeit bewahren, ihr Pflichtbewusstsein fördern, sie vielleicht sogar eines Tages retten?

Klara ist kein Superhirn, sie verfügt nicht über enzyklopädisches Wissen, im Gegenteil. Aber dank ihrer exzellenten Beobachtungsgabe gilt sie als besonders talentierte Vertreterin ihrer Modellreihe. Außerdem hat sie Gefühle, ist empathisch und taktvoll, empfindet Traurigkeit, Besorgnis, Furcht, nicht zuletzt Sehnsucht und Hoffnung. Ein Androide als Sympathieträgerin, das ergibt eine reizvolle Erzählperspektive, pendelnd zwischen Arglosig­keit und Scharfsinn. Nie drohen wir dabei zu vergessen, dass ­Klara ein Roboter ist: Sie benutzt formelhafte Phrasen und seltsame Wörter wie „Bettelmann“ statt „Bettler“, „Rinderhack­erstellung“ für „Burgerlokal“, oder „Lose-Steine-Bereich“ statt Kiesauffahrt. Doch was ist das eigentlich für eine Welt, in der es selbstverständlich ist, Androiden zu kaufen wie Staubsauger? 

Um die Privatsphäre nicht zu stören,  stand ich im Schatten, mit dem Gesicht zum Kühlschrank. 

aus: "Klara und die Sonne"

Dystopie in vertrautem Ambiente

 Ishiguro, der gern zugibt, auf Fotos deshalb immer schwarze T-Shirts zu tragen, „weil das am besten aussieht“, hat den Look seiner Dystopie, ihre technischen Einzelheiten konsequent als Leerstelle gestaltet. Als gesichert darf gleichwohl gelten: Es handelt sich weder um ein Hochglanz-Science-Fiction-Ambiente mit schnittigen Raumschiffen noch um eine postapokalyptische Ödnis, vielmehr um ein Near-Future-Szenario, eine beklemmende, unheilvolle Mischung aus viel Vertrautem und wenig Fremdem. Es gibt zwar noch so Alt­bekanntes wie Umweltbelastung, Nagel­boutiquen und gemeine Teenager, daneben alleinerziehende, gestresste Karrierefrauen und Migrantinnen als Haushaltshilfen; aber gleichzeitig haben sich anscheinend gefährliche neue Techniken der Leistungsoptimierung durch­gesetzt und eine extrem hierarchische Gesellschaft mit grausamen Exklusionsmechanismen errichtet. Eine Zivilisation, die letztlich doch bloß einen kleinen technokratischen Schritt entfernt scheint von den Silicon-Valley-Innovationen des Jahres 2021, in dem etwa Deep-Fake-Videos Verstorbener bei der Trauer­bewältigung helfen sollen.

Kazuo Ishiguro
Klara und die Sonne

Übersetzt von Barbara ­Schaden.
Blessing, 352 S., 24,– €, 
ISBN 978-3-89667-693-1 
 

Auch wenn Kazuo Ishiguro den Schauplatz des thrillerhaften Geschehens lediglich andeutungsweise irgendwo in Asien verortet: „Klara und die Sonne“ liest sich wie eine Antwort auf den Pandemie-Trend, dass im technikbegeisterten Japan die Beliebtheit von Sozialrobotern boomt. Doch der Autor hält keineswegs bloß jenem Land, in dem er geboren wurde, den Spiegel vor. Er prangert jedweden zeitgenössischen Machbarkeitswahn an, und das auf seine ganz eigene, unnachahm­liche Weise: weder reißerisch noch moralisierend, stets unaufdringlich und unprätentiös, oft melancholisch. 
Bedrohlich wirken in „Klara und die Sonne“ weniger die Roboter, sondern deren Erfinder – und das, was ihre real existierenden Visionen aus den Menschen machen: skrupellose Befehlsgeber, die fühlende Kreaturen so geringschätzig behandeln wie Wegwerfprodukte. Der Umgang mit Klara, Inbegriff einer schutzlosen, bedrückend duldsamen Subalternen, wird so zum Prüfstein für die Humanität einer Gesellschaft. Hätte Klara Gelegenheit, dieses Buch zu beurteilen, würde es vielleicht so klingen: „Ich bestimme es als bemerkenswert.“

Andrea Rinnert

Kazuo Ishiguro im Buchjournal-Interview

„Klara und die Sonne“ ist der erste Roman, den Sie als Literaturnobelpreisträger veröffentlichen – hat die Auszeichnung Ihren Schreibprozess verändert?
Kazuo Ishiguro: Der Nobelpreis war eine große Ehre, aber ich habe ihn in einer anderen Welt gewonnen als in der, in der ich schreibe. In meinem Arbeitszimmer, in der Welt meiner Fantasie, wenn ich auf meine Blätter starre, sind mein Ehrgeiz und meine Schwierigkeiten genau so, wie sie immer waren! 

Mit Klara haben Sie eine sympathische Androidin zur Ich-Erzählerin gemacht. Was hat Sie daran gereizt?
Klara hat es mir erlaubt, die Menschen mit den Augen einer völlig anders­artigen Außenseiterin zu sehen. In einigen Wissensbereichen wird sie schnell äußerst weltgewandt, in anderen bleibt sie ein kleines Kind. Durch eine nicht-menschliche Erzählerin konnte ich zudem einen unverbrauchten Blick auf diese Fragen werfen: Was ist das Besondere am Menschen? Sind Menschen grundsätzlich einsam? Was ist menschliche Liebe?

Wie nah sind wir der dystopischen Leistungsgesellschaft, die Sie in „Klara und die Sonne“ schildern?
Näher, als wir annehmen könnten. Aber unsere Zukunft muss nicht „dystopisch“ sein. Jüngste Durchbrüche bei Künstlicher Intelligenz, Genom-Editierung (vor allem CRISPR-Cas) und „Big Data“ könnten uns enorme Vorteile bringen. Doch wenn wir blind in dieses radikal neue Zeitalter wandeln und seine riesigen Herausforderungen nicht bewältigen, könnten wir uns tatsächlich in so einer Welt wie in meinem Roman wiederfinden. Hier sind viele Menschen aus allen Klassen nicht mehr in Arbeitsverhältnisse eingebunden und Gesellschaften sind als „wilde Meritokratien“ organisiert.   

arin

Über den Autor

Kazuo Ishiguro, 1954 in Nagasaki ­geboren, kam 1960 nach London, wo er später Englisch und Philosophie studierte. 1989 erhielt er für seinen Weltbestseller „Was vom Tage übrig blieb“ den Booker Prize. Für sein Werk, bislang übersetzt in 50 Sprachen, wurde Ishiguro 2017 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm „Der begrabene Riese“ (2015); sein neuer Roman „Klara und die Sonne“ ist sein achter. Der Autor lebt in London. 

Redaktionsleiter Eckart Baier über "Klara und die Sonne":