BELLETRISTIK

Die verlorene Tochter

12. Oktober 2023

Ein Kind, das nach Jahrzehnten heimkehren will, und eine Mutter, die sich jeder Annäherung verweigert: Feinfühlig und einprägsam erzählt Vigdis Hjorth von dem schwierigen Versuch, alte Wunden zu heilen.

In einer äußerlich ruhigen, unterschwellig aber vibrierenden Prosa seziert Hjorth eine zerrüttete Mutter-Tochter-­Beziehung.

Vor 30 Jahren hat Johanna ­Eltern und Ehemann verlassen, um mit ihrer großen Liebe Mark in die USA zu gehen und als Künstlerin frei zu sein. Nun, nach Marks Tod, kehrt Johanna für eine Ausstellung nach Norwegen zurück und hofft auf eine Versöhnung mit ihrer Mutter. Aber die kann und will der Tochter deren Flucht nicht verzeihen und lehnt jeden Kontakt ­vehement ab. Während Johanna immer ­drängender versucht, ihrer Mutter nahezukommen, werden Erinnerungen an ihre Kindheit wach, an zerbrochenes Porzellan und zugeschlagene Türen – und an eine Familie, in der allzu viel nie ausgesprochen wurde.

In Norwegen ist Vigdis Hjorth mit ihren oft autofiktionalen Romanen und lebensnahen Themen eine literarische Größe, und ihr neues Werk zeigt, dass der Ruhm nicht von ungefähr kommt: In einer äußerlich ruhigen, unterschwellig aber vibrierenden Prosa seziert Hjorth eine zerrüttete Mutter-Tochter-­Beziehung, erzählt mit poetischer Kraft von Nähe und Entfremdung, von Heimatlosigkeit, Schuld und von der Sehnsucht nach Vergebung.

Johanna wünscht sich Erlösung, muss aber schließlich erkennen, dass sie diese nur in sich selbst zu finden vermag.
Vigdis Hjorths Buch ist ein faszinierender Roman, in dem sich jeder und jede wiederfinden kann, der Text einer meisterhaften Autorin, die es hierzulande erst noch zu entdecken gilt. Und so ist das Buch auch ein Versprechen, das Vorfreude weckt: auf Hjorths nächsten Roman, der im März erscheinen wird. • Irene Binal

Vigdis Hjorth
Die Wahrheiten meiner Mutter

Übersetzt von Gabriele Haefs. 
S. FISCHER, 400 S., 24,– €,
ISBN 978-3-10-397512-3