Nino Haratischwili: DAS MANGELNDE LICHT

Vier Freundinnen

3. März 2022

Den vier Frauen in Nino Haratischwilis neuem Roman mangelt es im Tbilissi der 1990er Jahre an Licht und Luft zum Leben, aber nicht an Hoffnung, Mut und Erlebnishunger: In ihrem Kampf um private Freiheit und Unabhängigkeit spiegelt sich das Schicksal ihres Landes. 

Nino Haratischwili macht es selten kurz, aber langweilig wird es bei ihr nie: Man kann ihre ebenso wuchtigen wie souverän und gefühlsstark erzählten Pageturner kaum aus der Hand legen. „Das achte Leben (Für Brilka)“ erzählt über sechs Generationen hinweg von einer Schokoladendynastie, einem Jahrhundert georgischer und europäischer Geschichte. „Die Katze und der General“ ist ein Schuld-und-Sühne-Epos von Tolstoi’­schen Ausmaßen. „Das mangelnde Licht“ nun hat 832 Seiten und man möchte keine davon missen. Hinreißend lebendig, sinnlich bunt und zugleich spannend entfaltet Haratischwili ein Panorama der Affären, Abenteuer und Katastrophen eines un­ver­gess­lichen Freundinnenquartetts: vier Frauen zwischen Liebe und Hass, öffentlichem Mangel und privatem Glück, ein Geschich­tenteppich, geknüpft aus mädchenhaftem Übermut und überbordender Erzähllust, westeuropäischer Kultur und postsowjetischer Tristesse. 

Hinein ins Abenteuer des Lebens
In einer Sommernacht 1987 steigen die vier Mädchen in den Botanischen Garten von Tbilissi ein. 32 Jahre später, vom Schicksal zerzaust, aber ungebrochen, werden sich drei von ihnen bei einer Vernissage in Brüssel wiedertreffen. Dina, schon immer vorwitzig, neugierig und mutig, stieg damals als Erste über den Gitterzaun. Die anderen folgten ihr zuerst zögernd und dann voller Neugier in den Abenteuergarten des Lebens: Nene, die fröhlich-naive Träumerin, Nichte eines mächtigen Gangsters; Keto, die von ihren beiden Großmüttern das Erzählen lernte und später Kunstrestauratorin wurde; schließlich Ira, die pragmatisch-vernünftige Außenseiterin – die brillante Juristin wird einen Polit­skandal lostreten. 
 

Ich wähnte mich für einen ­Moment als Herrscherin über jedes Glück und jede Freude, als Königin der ­Wagemutigen, denn ich war für einen Augenblick sie, Dina, meine tollkühne Freundin.

Aus: "Das mangelnde Licht"


Die Fotografien der furchtlosen Journalistin Dina auf der Brüsseler Vernissage rufen in den Frauen verschüttete Erinnerungen wach: an den bröckelnden Charme des alten Tbilissi, an Feste und Partys in den Hinterhöfen des verwunschenen Viertels Sololaki, an erste Lieben und letzte Leidenschaften, aber auch an Straßenkämpfe und Schießereien. Dass keine der Frauen unbeschadet durch die Jahre kam, liegt nicht nur an den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen, sondern nicht selten auch an den Männern. Aufgeputscht von alten Sowjetmythen, Heimatfolklore und westlichen Gewaltfantasien, sind so manche von ihnen gescheiterte Existenzen, die weder Gutes bewirkt noch das Böse verhindert haben. 
Tbilissi ist für die Frauen ein ewiger Sehnsuchtsort, aber seine Schönheit ist dem Verfall preisgegeben.  Definitiv kein Ort zum Leben. Die meisten von ihnen flüchten daher früher oder später ins Ausland, sei es in die USA wie die kluge, scharfzüngige Ira oder nach Deutschland wie Keto. Kein Zufall, dass sich die drei Überlebenden des Quartetts am Ende in Brüssel wiedertreffen: Nur in der Hauptstadt Europas gibt es wohl so etwas wie Hoffnung für die Völker im kaukasischen Kreidekreis Putins. 
Die Frauen haben bewegte Jahrzehnte hinter sich, aber das hat sie noch lange nicht immun gemacht gegen Hoffnung, Liebe und die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Auch aus schmerzhafteren Erfahrungen, so Haratischwilis tröstliche Ästhetik, kann Gutes und Schönes entstehen, schließlich liegen Glück und Leid oft dicht beieinander. Und so suchen die Frauen immer noch nach der verborgenen Tür im Botanischen Garten, die sie aus der verklärten Vergangenheit und verbauten Gegenwart zurück in eine offene Zukunft führt. „Jeder Mensch sollte ein Anrecht auf genügend Licht haben“, heißt es einmal. In Zeiten mangelnden Lichts entzündet Nino Haratischwili mit ihrer Hymne an die Freundschaft ein Licht am Ende des Tunnels, Hoffnungsfunken in der Finsternis. 

Text: Carmen Schneider

 

Nino Haratischwili
Das mangelnde Licht

Frankfurter Verlagsanstalt, 
832 S., 34,– €, 
ISBN 978-3-627-00293-0

Über die Autorin

Nino Haratischwili, 1983 in ­Tbilissi geboren, kam mit ihrer Mutter schon in den 1980ern nach Hamburg, kehrte aber immer wieder nach Georgien ­zurück. Ihr Best- und Longseller „Das achte ­Leben (Für Brilka)“ wird gerade als internationale Serie verfilmt. Der Roman wurde in 25 Sprachen übersetzt und für den International Booker Prize nominiert. „Die Katze und der General“ stand 2018 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Auch „Das mangelnde Licht“ hat das Potenzial zum Bestseller, bereits vor Erscheinen des Romans waren 15 Auslandsrechte verkauft.