Stadtschreiber-Stipendien

Schreiben an fremden Orten

2. Juni 2023

Vor rund 50 Jahren wurde in Bergen-­ Enkheim der erste Stadtschreiber-­Literaturpreis ins Leben gerufen. Eine gute Gelegenheit, das Konzept genauer unter die Lupe zu nehmen.

Als der Ortsbeirat des Frankfurter Stadtteils ­Bergen-Enkheim im Frühjahr beschloss, die Buchskulptur an der Hohen Straße zu reinigen, stieß er auf unerwarteten Widerstand: Das Denkmal war nie auf Dauer geplant, hieß es aus dem Frankfurter Magistrat, demnächst solle es abgebaut werden. Das sorgte für heftige Reaktionen in den Sozialmedien, denn die Buchskulptur verweist auf die Stadtschreiber-Tradition von Bergen-­Enkheim, auf die man dort außerordentlich stolz ist. „Der Erfinder des Stadtschreiber-Amts war der Bergen-Enkheimer Schriftsteller Franz Joseph Schneider“, erklärt der Geschäftsführer der Kulturgesellschaft Bergen-Enkheim, Peter ­Ließmann. „Es war seine Idee, Schriftstellern die Möglichkeit zu geben, ein Jahr lang finanziell unabhängig zu leben.“  

Das Beispiel machte Schule: Heute schreiben zahlreiche Städte und Gemeinden Stadtschreiber-Stipendien aus, mit denen Autoren und Autorinnen für eine gewisse Zeit fern ­ihrer Heimat wohnen und arbeiten können. Die Modalitäten sind ganz unterschiedlich: Während der Stadtschreiber in Bergen-Enkheim ein Jahr im Stadtschreiber-Haus logiert und keine besonderen Verpflichtungen zu erfüllen hat, fordert Mainz von seinem Stadtschreiber eine Art elektronisches Tagebuch. Im österreichischen Graz muss der Preisträger mindestens acht Monate vor Ort sein, in Dresden beträgt die Aufenthaltsdauer sechs Monate, in Salzburg nur zwei bis drei Monate, dafür sind Auftritte im Literaturhaus Pflicht. Auf Sylt wird kein Stadt-, sondern ein Inselschreiber gekürt, und die Schwarzwaldgemeinde Eisenbach vergibt alljährlich ein Dorfschreiber-Stipendium.

Dabei ist ein Stadtschreiber für die Städte und Gemeinden mehr als nur ein Marketing-Gag. „Die Amtseinführung ist Gesprächsthema an den Stammtischen“, meint Kulturgesellschafts-Geschäftsführer Peter Ließmann aus Bergen-Enkheim, „auch von Leuten, die ansonsten wenig mit Literatur in Kontakt kommen.“ Das Fest zur Amtseinführung lockt ­alljährlich mehr als 1 000 Menschen an, die Stadtschreiber be­suchen Schulen und Vereine, sie organisieren Lesungen oder Diskussionsrunden. Die amtierende Stadtschreiberin in ­Bergen-Enkheim, Marion Poschmann, lud etwa im Herbst zur Teestunde. „Es gibt einige Möglichkeiten, Präsenz zu zeigen und das Leben im Ort zu bereichern“, sagt sie. „Und vielleicht ist es auch so, dass die geistige Arbeit, die im Stadtschreiber-­Haus geleistet wird, auf eine nicht mess-, aber doch spürbare Weise in die Öffentlichkeit ausstrahlt.“

„Ortswechsel bewirken Erfahrungen, und diese sind der Grundstoff des Schreibens. Der Reiz besteht darin, sich länger an einem Ort aufzuhalten, an den man von sich aus wahrscheinlich niemals gekommen wäre.“

Marion Poschmann

Ortswechsel sind für Schriftsteller ohnehin unerlässlich

Aber was bedeutet ein Stadtschreiber-Stipendium für die Autorinnen und Autoren? Vor allem eine Abwechslung vom Alltag, die Möglichkeit, an einem fremden Ort neue Eindrücke zu sammeln. Marion Poschmann empfindet den Aufenthalt im Stadtschreiber-Haus als Kontrastprogramm: „In Berlin lebe ich im Zentrum, Bergen-Enkheim liegt am Stadtrand, es gibt dörfliche Strukturen, man ist in wenigen Minuten draußen auf dem Feld. Da in meinen Büchern die Natur eine gewisse Rolle spielt, profitiere ich davon, ein ganzes Jahr in ländlicher Umgebung zu verbringen.“ Ortswechsel, sagt Poschmann, sind für Schriftsteller ohnehin unerlässlich: „Sie bewirken Erfahrungen, und diese sind der Grundstoff des Schreibens. Der Reiz besteht darin, sich länger an einem Ort aufzuhalten, an den man von sich aus wahrscheinlich niemals gekommen wäre.“
Nicht immer jedoch ist das ganz einfach zu realisieren – vor allem, wenn daheim eine Familie versorgt werden will. So wie bei der Leipziger Autorin und zweifachen Mutter ­Katharina Bendixen, 2022 Stadtschreiberin in Dresden. „Dazu gehört ein Partner, der die Arbeit übernimmt“, sagte sie dem MDR. „Außerdem war die Stadt Dresden sehr entgegenkommend. Ich bin halb in Leipzig, halb in Dresden, und wenn die Familie zu Besuch ist, bekommen wir dafür eine größere Wohnung.“ Keine Selbstverständlichkeit, wie Bendixen weiß: „Diese Stipendien können oft nur von Autoren und Autorinnen angetreten werden, die keinerlei Verpflichtungen haben. Also keine Kinder, keine pflegebedürftigen Angehörigen oder was auch immer einen am Ort hält.“ Langsam jedoch scheint ein Umdenken stattzufinden, was Bendixen zu schätzen weiß: „Die Stadtschreiberinnen-Stelle in Dresden ist ein gutes Beispiel dafür, wie auf die Lebensumstände von Autoren und Autorinnen eingegangen werden kann.“

So wandelt sich das Stadtschreiber-Konzept, passt sich an gesellschaftliche Veränderungen an und begegnet so dem Vorwurf, nicht mehr zeitgemäß zu sein. „Schriftstellerei ist ein künstlerischer Prozess“, erläutert Marion Poschmann. „Man verarbeitet nicht Informationen, sondern Wahrnehmungen, und das ist ein Vorgang, der einen körperlich einnimmt. Daher ist es nicht gleichgültig, wo man sich gerade befindet.“ Dazu kommt für sie die Nähe zur Vergangenheit: „Interessant ist, dass sich in diesen Räumlichkeiten jedes Jahr ein anderer Schriftsteller aufhält. Manchmal bilde ich mir ein, dass sich von der Anwesenheit meiner Vorgänger noch immer etwas in diesen Mauern hält.“ Diese Vorgänger waren etwa Wolfgang Koeppen, der erste Stadtschreiber in Bergen-Enkheim; Peter Härtling, der den Ginkgobaum im Hof pflanzte; die spätere Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller oder Robert Gernhardt, der an der Gestaltung der Buchskulptur an der Hohen Straße beteiligt war. 

Jener Buchskulptur, die nun, geht es nach dem Frankfurter Magistrat, weichen soll, aber die den Bergen-Enkheimern ans Herz gewachsen ist. Peter Ließmann jedenfalls will nicht kampflos aufgeben. Derzeit wird im Stadtteil diskutiert, ob die finanziellen Mittel vorhanden sind, um die Skulptur an einem anderen Ort aufzustellen oder auf eigene Kosten zu ­sanieren. Denn immerhin ist sie ein wichtiger Teil der Stadtschreiber-Tradition von Bergen-Enkheim – und diese Tradi­tion gehört noch lange nicht zum alten Eisen. • Irene Binal